Gefühle sind nicht das Problem. Unser Umgang mit ihnen ist es.

Es gibt diesen Satz, der in Therapiekreisen und Coachingräumen herumgereicht wird wie ein heiliger Gral: Hinter jedem Gefühl steckt ein Bedürfnis.

So simpel, dass man ihn fast überhören könnte.

So wahr, dass man es besser nicht tut.

Denn Gefühle sind keine zufälligen Wetterlagen, die über uns hinwegziehen. Sie sind Reaktionen. Präzise, hochinformativ, manchmal unbequem, aber immer ehrlich.

Nur hören wir selten hin. Wir lernen früh, zu funktionieren. Nicht zu fühlen.

„Reiß dich zusammen“, „Stell dich nicht so an“, „Andere haben auch Probleme.“

Das sind die Passwörter unserer emotionalen Erziehung.

Und dann wundern wir uns, wenn Erwachsene plötzlich nicht mehr wissen, was sie eigentlich wollen oder warum sie Sonntagabend Herzrasen bekommen, obwohl doch alles „gut läuft“.

Gefühle als Gebrauchsanweisung

Wenn man Gefühle nicht als Gegner, sondern als Gebrauchsanweisung begreift, wird’s spannend.

Wut, zum Beispiel, hat ein schlechtes Image. Dabei ist sie oft das gesündeste Signal, das wir haben.

Wut sagt: Hier stimmt was nicht.

Nicht: Ich bin ein schlechter Mensch.

Angst hingegen ist wie ein Sicherheitsbeauftragter mit Hang zur Übertreibung.

Sie will schützen, nicht lähmen.

Und Traurigkeit?

Sie ist vielleicht das ehrlichste Gefühl überhaupt. Sie trauert um das, was uns wichtig war. Oder um das, was wir nie bekommen haben.

Hinter all dem steckt kein Drama, sondern ein Bedürfnis.

Nach Autonomie.

Nach Sicherheit.

Nach Nähe.

Nach Bedeutung.

Nach Ruhe.

Unsere Gefühle sind also im Grunde Übersetzer, die ständig versuchen, uns mitzuteilen, was fehlt.

Aber wir unterbrechen sie pausenlos mit Ablenkung, To-do-Listen, Dopamin-Schüben und Rationalisierung.

Vom Umgang mit inneren Pressesprechern

Man könnte sagen: Gefühle sind wie Pressesprecher unserer Psyche.

Manche sind laut und übertreiben maßlos, andere flüstern, bis man fast schon weghört.

Aber alle berichten von demselben Konzern: unserem inneren System.

Wenn man die Pressekonferenz regelmäßig abbricht, weil einem die Fragen zu unangenehm sind, dann beginnen die Sprecher irgendwann zu randalieren.

Panikattacken, Schlaflosigkeit, chronische Gereiztheit. Das ist im Grunde der Kommunikationsstreik des Systems.

Und plötzlich steht man da, zwischen Burnout-Diagnose und Achtsamkeitskurs, und merkt:

Man hat die eigene Sprache verlernt.

Das Bedürfnis hinter der Wut

Manchmal lohnt es sich, ganz praktisch zu fragen:

Was will dieses Gefühl gerade von mir?

Was braucht es, um sich beruhigen zu können ohne, dass ich es betäube oder moralisch bewerte?

Hinter Wut steckt oft das Bedürfnis nach Einfluss oder Gerechtigkeit.

Hinter Angst das Bedürfnis nach Sicherheit.

Hinter Traurigkeit das Bedürfnis nach Trost.

Hinter Scham das Bedürfnis nach Zugehörigkeit.

Das klingt banal, ist aber revolutionär.

Denn wer sein Bedürfnis erkennt, kann handeln, statt zu verdrängen.

Und genau das ist der Unterschied zwischen emotionaler Reife und emotionalem Reaktionsmodus.

Das Missverständnis vom „emotional intelligenten Menschen“

Viele verwechseln emotionale Intelligenz mit Gefühlsmanagement.

Dabei geht’s nicht darum, Gefühle zu kontrollieren, sondern sie zu verstehen.

Es geht darum, die eigene Innenwelt so ernst zu nehmen wie eine Deadline.

Gefühle sind kein Hindernis.

Sie sind Navigation.

Zum Schluss eine unbequeme Wahrheit

Wenn du das nächste Mal wütend bist, ängstlich oder traurig, frag dich nicht, wie du es loswirst.

Frag dich, was du brauchst.

Die Antwort ist fast immer unspektakulär.

Aber sie verändert alles.

Weil du dann nicht mehr Opfer deiner Emotion bist sondern Übersetzer deiner Bedürfnisse.

Und das, ehrlich gesagt, ist die schönste Form von Selbstführung, die es gibt.

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Was die Arbeit im Flüchtlingslager mir beigebracht hat. Über Resilienz, Demut und das, was bleibt